Kurt Kusenberg - Magie des Lesens

 

Das Lesen ist die reine Zauberei. Da sitzt Einer im muffigen Eisenbahnabteil, eingeklemmt zwischen Mitreisende, die Binsenwahrheiten austauschen, und merkt von alledem nichts, denn er ist weit fort und auf sehr glückliche Art einsam, obwohl er nicht allein ist. Oder es liegt da Einer bäuchlings auf einer Wiese, den Kopf in die Arme gestützt, ganz allein und doch nicht einsam, sondern in großer Gesellschaft, im Rundgespräch mit erhabenen, mit feurigen Geistern, und die Stimmen in der Luft hört nur er. Ja: sie lesen, die Beiden, sie lassen sich entrücken, in die geistige Landschaft ihrer Wahl. Sie zaubern sich fort; man könnte aber ebensogut sagen, daß sie ein gewaltiges Stück Welt zu sich her zaubern, ins Eisenbahnabteil, auf die Wiese. Wo Zeit und Raum übersprungen werden, kommt es nicht darauf an, in welcher Richtung gezaubert wird.

Erstaunlicher noch ist das Instrument, welches der zauberische und bezauberte Leser in der Hand hält: ein Päckchen Papier mit Schriftzeichen, sonst nichts. Von links nach rechts, von links nach rechts gleiten seine Augen über Reihen von Buchstaben: trockene Zeichen, die keine Bilder mehr sind wie einst, sondern völlig abstrakte Gebilde, 25 an der Zahl, und die - jeweils ein wenig verstellt - Wörter ergeben und Sätze, also auch nichts Besonderes. Dies bißchen bedruckte Papier aber (man kann es kaum glauben) ist fähig, den Lesenden zu unterhalten, zu erheben oder zu erschüttern, ihm Gedanken und Empfindungen einzugeben, ihn unter Menschen und in Länder zu versetzen, die er nie gekannt hat und die nun plötzlich sein sind, für immer. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ganz gewiß nicht - zumal wenn man ermißt, daß der Absender der geheimnisvollen Botschaft seinerseits nichts

anderes getan hat, als daß er Papier mit eben jenen Schriftzeichen beschrieb, die hernach gedruckt wurden, also mit demselben absonderlichen Gekrakel, das sich dann im Buche befindet. Der Rundfunk mag ein technisches Wunderwerk sein, aber er ist kein geistiges Wunder, denn er trägt ja die menschliche Stimme und den Klang der Musik ans Ohr des Hörers heran, er spricht mit ihm. Beim Buch hingegen stellen nur schwarze Zeichen auf weißem Grund die Verbindung zwischen dem Sender und dem Empfänger her.

Und welche Verbindung! Was in diese kargen Buchstaben hineingegossen wird an Adel, an Kraft, an Aufruhr und Schönheit, was sich mitteilt durch ein wenig Blei und Druckerschwärze: es erreicht unversehrt den Leser und ergreift von ihm Besitz - in dem Maße, wie er das Gelesene zu verarbeiten weiß. Ungeheuerlich ist die Wirkung des geschriebenen Wortes, weil es auf magische Weise das Wort schlechthin im inneren Ohr des Lesers erklingen läßt; die Sprache aber ist des Menschen höchstes Gut, ist das eigentlich Menschliche an ihm. Durch sie, die seine Gedanken ordnet, bringt er Ordnung und Sinn in sein Leben, durch sie empfängt er die Mitwelt, durch sie teilt er sich den Anderen mit. Flugschriften und kleine Bücher haben oft genug den Gang der Weltgeschichte verändert, mit wenigen Zeilen oder Seiten nur, weil sie große Gedanken aussprachen, und alle Diktaturen haben Bücher verbrennen lassen, weil sie die Gewalt des gedruckten Wortes fürchteten. Sie wußten, daß der Mensch aus dem Buch die Wahrheit holt und sie sich zu eigen macht - wie jener Johannes der Apokalypse, dem befohlen wird, das heilige Buch zu verschlingen, damit es in ihm lebe. Der Mensch hat den Hang, sich verzaubern zu lassen, aus seinem kleinen, individuellen Leben

 

herauszugelangen und teilzuhaben am großen Welttheater, am Weltkonzert, damit er erfahre, wie reich das Leben und welcher Leistungen die Menschheit fähig ist. Er geht ins Schauspiel, ins Lichtspiel, er berauscht sich an der Musik und auch wohl am Wein, der seiner Phantasie Schwingen verleiht. Er bedient sich aller möglichen Zaubermittel, bequemer und unbequemer, und vergißt darüber mitunter, daß die größte Zauberkraft der Erde ins Buch gebannt ist und mit einem einzigen Handgriff gelöst werden kann. Keine Beschwörungen sind nötig, keine Siegel zu zerbrechen: Du, Leser, schlägst das Buch auf, beginnst zu lesen - und schon nach zwei, drei Sätzen bist du in einer Gegend des Geistes, der Poesie, in die zu reisen es dich gelüstete. Das große, das schöne oder gewagte Abenteuer: im Buch wartet es auf dich. Derweil die Anderen Karten spielen und kegeln und töricht über Politik reden, bist du rund um die Erde geflogen und hast vielleicht unterwegs einen Blick in den Himmel getan.

(1954)