Die Untat (4)

Es genüge vollauf, erfuhr er, wenn er am Abend
zuvor Bescheid gebe; in der Frühe möge er sich dann einfinden, um den Tod zu erleiden. Verwirrt begab Orlino sich nach Hause und merkte bald, daß man mehr als den Vollzug der Strafe, nämlich den Richtspruch in sein Herz gelegt hatte. Die Späher, von denen er sich immer und überall beobachtet fühlte, quälten ihn nicht so sehr wie seine Schuld, die er fortschreitend drückender empfand.     

Konnte er nach dieser Untat weiterleben, als sei nichts geschehen ? Besaß wer, der ein Menschenleben vernichtet hatte, Anrecht auf die Luft, die Unschuldige atmeten, auf die Sonne, die Schuldlose beschien? Er wagte es nicht, sich öffentlich zu zeigen, und lebte einsiedlerisch hinter verriegelter Tür. Bald deuchte ihn der Tod gering vor der Furchtbarkeit seiner Tat, ja, er kam ihm milde vor. Eines Abends begab er sich aus freien Stücken zum Gericht und bat darum, am nächsten Morgen dem Scharfrichter überantwortet zu werden. Doch man wies ihn ab, für jetzt und immer, und man blieb dabei, trotz seinem Flehen. Mit Gewalt mußte man ihn auf die Straße bringen, mit Gewalt ihn nach Hause geleiten. Noch am selben Abend erhängte er sich.

Der Aufseher des Gefängnisses hatte Weisung erhalten, Narda alle Bücher und Schriften zu besorgen, um die er bitten werde. Das war wohlgetan, denn es zeigte sich, daß der Jüngling von dem Drang besessen war, das Werk des Mannes, den er ermordet hatte, aufs genaueste kennenzulernen. Je mehr Narda in die Forschungen und

   Gedankengänge Talles eindrang, so entsetzlicher erschien ihm sein Vergehen. Welch großen Geist hatte er sinnlos, frevlerisch ausgelöscht !

Gab es einen Weg, das Unrecht wieder gut zu machen? Narda fand ihn. Tiefer noch, inbrünstiger versenkte er sich in Talles Arbeiten, schulte an ihnen unablässig seinen Verstand und brachte es mit der Zeit dahin, daß er das unterbrochene Werk des Lehrers nicht allein beherrschte, sondern auch fortzusetzen wußte. Was er anstrebte, gelang ihm: er entäußerte sich seiner selbst und führte das Leben des Toten weiter - er wurde Talle.

Der Richter erhielt Kenntnis von der Verwandlung, die sich mit dem Büßer zutrug, und sorgte dafür, daß es ihm bei seinen Forschungen an nichts gebrach. Er billigte Narda ein Laboratorium zu, und als der junge Gelehrte ihn bat, zu seinem eigenen Namen auch den Talles' führen zu dürfen, machte er bei der Witwe, die ja befragt werden mußte, einen guten Fürsprecher.

Zwölf Jahre nach seiner Tat verließ Narda das Gefängnis und bestieg, von der Studentenschaft umjubelt, jenen Lehrstuhl, den Talle erhöht und Orlino geschändet hatte. Die ungewöhnliche Verkettung des Schuldigen mit dem Opfer führte dazu, daß Talles Witwe späterhin Narda in ihrem Haus empfing und sich, nachdem drei weitere Jahre hingegangen waren, seiner Werbung nicht verschloß. Als Narda sie heimführte, wußte er auf Erden seine Schuld gesühnt.