Die Untat (3)

Bevor Narda den Saal betrat, wurde der Fall eines Mannes verhandelt, der drei Jahrzehnte zuvor, als Zwanzigjähriger, einen Mord begangen, seither aber makellos gelebt hatte und erst jetzt durch einen Zufall überführt worden war. Nachdem der Ankläger, ohne rechte Lust, die übliche Sühne verlangt hatte, erhob sich der Verteidiger und machte geltend. daß man doch wohl kaum einen Menschen für eine Tat, die ein anderer begangen habe, büßen lassen dürfe. Denn, so sagte er, zwischen dem Fünfzigjährigen von heute und dem Zwanzigjährigen von einst bestehe nicht der geringste Zusammenhang, leiblich schon gar nicht, weil nicht eine einzige Körperzelle des Jünglings unverändert in dem reifen Manne weiterlebe, und in geistiger Hinsicht erst recht nicht, weil während eines so langen Zeitraumes in jedem Menschen eine Veränderung vor sich gehe, die ihn schroffer von einer früheren Altersstufe abhebe als von seinen derzeitigen Altersgenossen. Name und Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung stellten zwar eine scheinbare Gleichheit der schuldigen und der angeschuldigten Person her, niemals aber jene innere Gleichheit, die erwiesen werden müsse, bevor an Strafe zu denken sei - die aber nicht erwiesen werden könne. Den Fünfzigjährigen, schloß, er, für die Schuld des Zwanzigjährigen büßen zu lassen, sei ein Unding und - was gar die Todesstrafe angehe - reiner Mord. Das hörte sich kühn an, jedoch nicht abwegig. Der Richter schloß die Augen und sann den Worten des Verteidigers nach. Dann sprach er den Angeklagten frei.

Als Narda hereingeführt wurde, bat der Verteidiger darum, ausnahmsweise vor dem Ankläger sprechen zu dürfen. Es wurde ihm gestattet. Der Fall des jungen Mannes, fuhr der Verteidiger fort, bilde die Umkehrung des vorangegangenen

  Falles. Daß Narda verführt worden sei und in gutem Glauben gehandelt, auch keinen Nutzen aus seiner Tat gezogen habe - das bleibe zur Seite gestellt, obwohl es dazu dienen könne, ein mildes Urteil zu erwirken.
Narda sei, verführt oder nicht, mit einer schweren Blutschuld beladen. Wende man jedoch die vorhin entwickelten Gedanke auf den jugendlichen Mörder an. so erhebe sich die Frage, ob man bei Verhängung der höchsten Strafe nicht einen Mord an dem späteren, dem fünfzigjährigen Narda begehe, der in dem Jüngling stecke, wie der Schmetterling in der Raupe, diesem so unähnlich wie ein Schmetterling der Raupe. Sobald man aber diese Möglichkeit zulasse, dürfe man nicht samt dem schuldigen Jüngling jenen Fünfzigjährigen bestrafen, der ein gänzlich anderer und daher ohne Schuld sei. Des Verteidigers Worte stimmten das Gericht nachdenklich. Der Ankläger beschied sich auf das, was vorzubringen seines Amtes war; er forderte die Todesstrafe nicht. Länger noch überlegte der Richter und blickte zwischendurch auf Narda, der gefaßt das Auge des alten Mannes ertrug. Dann sprach der Richter das Urteil: Narda sei auf unbestimmte Zeit und so lange in Gewahrsam zu halten, bis es keinem Zweifel unterliege, daß ein anderer Mensch aus ihm geworden sei. So war dem Recht genüge getan, und das Gericht löste sich auf.

Mit der Todesstrafe hatte es in Brenona eine eigene Bewandtnis. Sie wurde zwar ausgesprochen, jedoch nie vollzogen - aber das hielt man streng geheim, damit die abschreckende Wirkung erhalten bleibe. Wie staunte Orlino, als er nach der Verhandlung auf freien Fuß gesetzt wurde, wie erschrak er, als man ihm zugleich eröffnete, er selbst dürfe den Tag seiner Hinrichtung bestimmen.
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